«Jede und jeder steht in der Versuchung des religiösen Machtmissbrauchs», sagte der Arzt und Psychotherapeut Wolfram Soldan an der ersten Impuls- und Rechenschaftskonferenz des Netzwerks «Gemeinsam gegen Grenzverletzung». Sie bot viel Diskussionsstoff über diese besonders verworrene Form von Machtmissbrauch sowie Zeit für die Unterzeichner-Organisationen der Charta, einander Rechenschaft zu geben.
Religiöser Machmissbrauch zeichnet sich dadurch aus, dass religiöse Thematiken und Praktiken genutzt werden, um eine Person zu beeinflussen, wobei ihre persönlichen Grenzen missachtet werden. Die Person wird also zu etwas gedrängt, was sie von sich aus nicht tun würde. Verschiedene Eigenheiten machen diese Form des Machtmissbrauchs gemäss Wolfram Soldan besonders schwer fass- und durchschaubar. Dazu gehört etwa, dass er oft unauffällig beginnt und schleichend zunimmt und dass Täter sich selbst keiner Schuld bewusst sind, sondern aus ehrenwerten Motiven zu handeln glauben. Oft sei religiöser Machtmissbrauch denn auch nicht klar von geistlicher Vollmacht zu trennen.
Wolfram Soldan sieht vor allem dort eine Gefahr, wo Menschen einerseits vom Glauben begeistert sind und Gott sehr ernst nehmen, andererseits aber in ihrer Persönlichkeit unreif bleiben. Wichtig sei daher eine ganzheitliche Entwicklung von Glauben und Persönlichkeit. Er spielt auf die Frage der Identität an: «Nur wenn ein Mensch radikal aus der Freude seiner Identität in Christus lebt, wird Macht zweitrangig.» Ein Symptom einer ungesunden Entwicklung könne deshalb sein, dass die Gottesbeziehung leistungsorientiert ist und keine Zeit dafür investiert wird, die allein dieser Beziehung dient.
Sich der eigenen Neigung bewusst sein
Soldan erkennt die Sünde der Heuchelei als Hauptmotiv für religiösen Machtmissbrauch. Sie kommt in der Bibel besonders oft bei den Pharisäern zum Ausdruck. Man will durch «fromme Schauspielerei» (Übersetzung von Heuchelei durch Roland Werner in «Das Buch») einen anderen Eindruck von sich erwecken, als es der Realität entspricht. Weil dies in abgeschwächter Form jeden Menschen betrifft, ist es in den Augen von Wolfram Soldan wichtig, in den Gemeinden und Organisation eine Kultur des Bewusstseins dafür zu pflegen. «Das Bewusstsein der eigenen Gefährdung ist der Schlüssel für einen heilvollen Umgang mit religiösem Machtmissbrauch.»
Voneinander lernen
Für die Verantwortlichen von Verbänden, Kirchen und Organisationen, welche die Charta von «Gemeinsam gegen Grenzverletzung» unterzeichnet haben, umfasst das Netzwerktreffen auch einen Rechenschaftsteil. Die Leitenden rapportieren einander in gleichbleibenden Dreiergruppen, inwiefern sie die Ziele der Charta im eigenen Verband bereits umgesetzt haben und welche Ziele sie bis zur nächsten Konferenz in zwei Jahren verfolgen, um vorhandene Lücken in der Prävention zu schliessen.
Workshops und Kurzreferate boten diverse Einblicke in die aktuelle Praxis und die Gelegenheit, voneinander zu lernen. So berichtete beispielsweise Beat Ungricht von der Einführung und Anwendung eines Schutzkonzepts im Verband der Viva Kirchen. Natascha Bertschinger motivierte aus ihrer Erfahrung bei der EMK zur Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit. «Schon aus einfachen Studien lässt sich viel herauslesen und ableiten. Es ist auch ein wichtiges Zeichen nach aussen, dass wir uns unserer Schuld bewusst sind und unsere Verantwortung wahrnehmen.» Andi Bachmann-Roth, der Co-Generalsekretär der SEA, stellte die neuen Unterzeichner des Netzwerks vor. «Gemeinsam gegen Grenzverletzung» wächst schnell und umfasst bereits über 60 Fach- und Kirchenverbände, Kirchen und Organisationen.
Schliesslich berichtete Michael Mutzner als wissenschaftlicher Mitarbeiter von «Christian Public Affairs» von aktuellen politischen Vorstössen im eidgenössischen Parlament als Folge der bekannt gewordenen Missbrauchsfälle in Kirchen. Ihre Annahme und Umsetzung hätte auch Folgen für Mitglieder des Netzwerks, etwa eine Pflicht, Schutzkonzepte zur Missbrauchsprävention einzuführen. Michael Mutzner schätzte die Vorstösse grundsätzlich als gut ein, warnte aber auch vor der Gefahr einer Überregulierung. Umso wichtiger ist es, dass die betreffenden Organisationen selbst aktiv werden, bevor ein Zwang dazu kommt.